Die kleine Johanna

Niemand fuhr so gerne Bus wie Johanna. Wie leuchteten ihre Augen, wenn die Autos auf der Gegenfahrbahn lustig vorbeibrausten, während sie selbst gemütlich im Stau stand! Jeder Autobahnkilometer erschien ihr wie ein Geschenk Unserer Lieben Frau Vom Kamener Kreuz, und in den Pausen mochte sie den Bus am liebsten gar nicht verlassen. Doch die Aussicht auf eine Tüte Pommes Mayo oder eine Portion Schweinskopfsülze lockte sie dann meist doch in die Raststätte, und schließlich war es auch aufregend, sich in die endlose Reihe der Reisenden einzufügen und aus all den Zigeunerschnitzeln das appetitlichste auszuwählen! Wenn sich aber das Ende der Pause näherte, rief Johanna laut: "Wer Erster im Bus ist!" Und dann hüpfte sie, so schnell sie konnte, auf ihrem gesunden Fuß über den Parkplatz, daß es eine Freude war, ihr zuzusehen. "Immer mit der Ruhe," schmunzelte dann Bodo, der Busfahrer, und öffnete schnell die Tür, damit sie in ihrem Überschwang nicht dagegenprallte. Johanna aber stürzte zu ihrem Platz, ließ sich mit hellem Lachen in den Sitz fallen und betastete glücklich die Polsterung. "Weiterfahren! Weiterfahren!" rief sie, und gab erst Ruhe, als Bodo unter den anfeuernden Rufen der Mitreisenden den Bus auf Kurs gebracht hatte. "Mutterstadt..." - leise sprach sie den Namen vor sich hin. Welche Zauber, welche neuen Wunder mochten sie an diesem geheimnisvollen Ort erwarten? Ob es im Hotel einen Hund gab? Oder ein Telefon? Erschöpft schloß sie die Augen, und während der Bus eine Vollbremsung machte, fiel sie in einen erholsamen Schlaf.

Plötzlich öffnete sie die Augen: Irgendetwas war geschehen! Das traute Brummen des Motors war ebenso verstummt wie das unermüdliche Plappern der Kameraden. Sie sah zur Tür - und eisiges Entsetzen ergriff ihr kleines Herz: Ein großer, böser Schweizer war in den Bus getreten! "Ich bin Don, der Balmer!" fuhr er sie herrisch an und kniff dabei drohend seine kleinen Äuglein zusammen. "Komm mir nicht in die Quere, sonst..." "Wie meinen Sie das, ich bin eine Dame!" antwortete sie tapfer und schaute hilfesuchend in die Runde. Doch Oh Weh! Alle ihre Freunde drehten schnell die Knöpfe ihrer Walkmen lauter, der Fahrer Bodo schaltete hektisch die Heizung ein und aus, und selbst ihr treuer Ecki blickte so angestrengt aus dem Fenster, als stünde dort das langgesuchte Wort "Verzögerungstaktik" angeschrieben. Fand sich denn niemand, diesem Unhold Einhalt zu gebieten?

Da klangen aus dem hinteren Teil des Busses vertraute Schritte an ihr Ohr. Ein Hoffnungsstrahl durchzuckte ihr Inneres in freudiger Erregung! Gebannt drehte sie sich um: Er war es! Der große, blonde Harald stellte sich, einer überirdischen Erscheinung gleich, dem Schweizer in den Weg. "Sag erstmal Grüezi, Du Löli!" forderte er mit klarer, gebieterischer Stimme. Vor dieser hehren Lichtgestalt schien der Bösewicht in sich zusammenzuschrumpeln. Alle finstere Macht war von ihm gewichen, als er sich mit einem gemurmelten "Ich habe es ja nicht so gemeint, od'r?" an Harald vorbeidrückte und sich furchtsam in eine Ecke verkroch, wo er keinen Mucks mehr tat. Nun ging ein erleichtertes Aufatmen durch den Bus. Alle fielen sich lachend in die Arme, der alte Bodo hupte übermütig, und mit den fröhlichen Zeilen von "Roter Mond über Castrop-Rauxel" auf den Lippen fuhren sie singend und schunkelnd in den Abendhimmel.
Es war doch noch ein schöner Tag geworden.

Rüsselsheim, 29.11.1995

Roter Mond über Castrop-Rauxel,
lieblich blendet mich Dein Schein.
Schweif ich auch in weiter Ferne
bleibt mein Herz doch immer Dein!
Wie lieb' ich Deinen Charme, den herben,
Castrop-Rauxel sehn und sterben!
Wenn mir einst schlägt die letzte Uhr,
verbrennt mich in Castrop-Rauxel nur!